Die Wege des Herrn sind unergründlich. Und so ist auch mein Weg nach Voerde in den Jahren 2003 bis 2009 eine beinahe unendliche Verkettung von Zufällen, glücklichen Fügungen und unglücklichen Umständen, die mich doch schließlich in der Kronprinzenstraße landen ließen. Doch der Weg nach Voerde – ich glaube ich bin noch lange nicht am Ziel.

Alles begann in der ältesten Pizzeria Deutschlands in Gießen. An der Licher Straße war der mittlerweile geadelte Cavalliere Bortoli der erste Pizzabäcker nördlich der Alpen und seine Kunden, so sagt er, seien damals ausschließlich Gi‘s aus der nahegelegenen amerikanischen Kaserne gewesen. „Ein Deutscher“ ging in den 50er Jahren nicht essen. Aber ich schweife ab. In jener Pizzeria fragte mich mein bester Freund im Beisein seiner zukünftigen Frau, ob ich sein Trauzeuge werden wolle. Zu diesem Zeitpunkt lebte und arbeitete ich als gebürtiger Dortmunder – das wird noch von Bedeutung sein – schon seit 25 Jahren in Mittelhessen. Fast ebenso lange hatte es mich zu meiner Familie ins Ruhrgebiet zurückgezogen, aber irgendwie war es nie gelungen. Jener Freund hingegen hatte als Friedberger, also echter Hesse, sein Glück in Walsum gefunden. Als Mediziner hatte er am Evangelischen Krankenhaus Dinslaken angeheuert und später mit seiner Frau eine Praxis in Duisburg eröffnet. Bei ihm sollte ich also Trauzeuge sein. Die Crux: die beiden wollten sich unter der Sonne Südafrikas das Ja-Wort geben. Sie hatten das Land vielfach bereist und lieben gelernt.

Afrika und schon gar nicht der zwölf Flugstunden entfernte südliche Zipfel des Kontinents standen nicht auf der Liste meiner Wunschreiseländer, aber jetzt war ich als zweitwichtigster Mann der Feierlichkeiten – nach dem Bräutigam - eingeladen und mit mir eine kleine aber feine Schar guter Freunde und lieber Verwandter. Es war – ich darf es so lax ausdrücken - eine Supertruppe. Dabei auch die Cousine der Braut, eine damals 26 Jahre alte angehende Beamtin aus Walsum. Ich war immerhin schon über 40. Und doch, es kam wie es wohl kommen sollte: die fröhliche Hochzeitsfeier, einige, wenn auch wenige Tage in einem Land in dem Paradies und Hölle nur wenige Schritte von einander entfernt liegen – wir verbrachten die Zeit im Garten Eden – und schließlich ein Nachtreffen in Duisburg. Zwei Herzen fanden zueinander. Erst vorsichtig, aber dann immer mehr mit dem Wunsch für immer mit einander verbunden zu bleiben. Doch wo sollten diese Herzen schlagen? An der Emscher oder an der Lahn? Nach langem Überlegen und vielem Abwägen fiel die Wahl auf das Ruhrgebiet – zumindest in der Elternzeit, denn eines war bald klar: wir wollten auch Kinder. Und wo? Duisburg, Dortmund, in der neutralen Mitte in Essen?

altmeppen haus voerdeAber hatten nicht die Eltern der Braut noch eine Wohnung in Voerde? Voerde, wo ist das denn, nie gehört. Dinslaken ja, da wohnt die Dortmunder Torwartlegende Teddy de Beer, Wesel ja, da kennt jeder den Bürgermeister, aber Voerde. V und O, dann Erde, ach so schreibt sich das. Und was für ein schönes Kraftwerk, wenn man zum ersten Mal von Walsum kommt, und dieser schöne Rathausplatz. Kommt man zur falschen Zeit über die B 8, glaubt man niemals anzukommen, aber dafür entschädigt die weltweit intensivste Discounter-Meile, die Bahnhofstraße zwischen Bundestraße und Feuerwehrstützpunkt. Kurz gesagt: die Schönheiten und Qualitäten Voerdes eröffneten sich mir erst auf den zweiten Blick. Die standesamtliche Trauung fand im Haus Voerde statt. Das ist natürlich ein Pfund mit dem man wuchern kann, dieses Standesamt. Wir hatten vom Ambiente nicht viel. Kaum dass die Zeremonie beendet war, öffnete der Himmel seine Schleusen, alle Schleusen. Es regnete nicht, es goss in Strömen, Hunde und Katzen. Ein schlechtes Omen? Kirchliche Trauung zwei Tage später in Aplerbeck, strahlender Sonnenschein. Also doch alles gut mit der Ehe. Ein Jahr später sollte der erste Sohn geboren werden und sein Zimmer in der Voerder Kronprinzenstraße beziehen, allein der Mieter der Wohnung weigerte sich auszuziehen. Gerichte mussten bemüht werden. Viele Unwahrheiten und Lügen machten die Angelegenheit für Richter und die übrigen Juristen nicht leichter. Die junge Familie, das Ehepaar hatte das erste Jahr noch in Gießen und Duisburg getrennt gelebt, musste in eine Notunterkunft bei meinen Schwiegereltern im Overbruch ziehen, Eineinhalbzimmer, kleine Küche, zwei Badezimmer. Es war nicht so ganz das, was ich mir von meiner Wohnsituation erhofft hatte. Und der Mieter zog immer noch nicht aus. Wieder Lügen und Unwahrheiten. Fast ein Jahr dauerten die juristischen Scharmützel und der Behelfszustand in Sachen Wohnung. In dieser Zeit sollte der erste Sohn getauft werden und es war eine sehr, sehr nette Dame vom Kirchenvorstand der Gemeinde Sankt Maria, Königin des Friedens, die nach Walsum herauskam, um uns in der Gemeinde willkommen zu heißen. Das war für mich und meine geschundene Seele ganz wichtig, ganz viel Trost und gab Zuversicht, dass wir vielleicht doch noch irgendwann in Voerde ankommen und eine neue Heimat finden würden.
erde
Jetzt wohnen wir schon bald drei Jahre in „V, O, Erde“. Sind wir angekommen? Ist unser Weg nach Voerde schon beendet? Ich bin sehr ungeduldig und habe darum häufig das Gefühl, noch so gar nicht angekommen zu sein. Braucht es denn wirklich immer erst eine Generation auf dem Friedhof, ehe man sich heimisch fühlen darf? Ich sehne mich nach Heimat, aber Heimat braucht Zeit, um zu reifen. Heimat braucht Wurzeln, die nur sehr langsam wachsen. Heimat braucht echte Freund, die auch nicht an jeder Ecke warten. Heimat braucht Erinnerungen, wie etwa an die Taufen unserer Kinder, an die Gemeindefeste oder die Martinsumzüge vom Kindergarten. An den Weihnachtsmarkt auf der Allee oder die Kriminacht in der „Innenstadt“. Ich sollte wirklich geduldiger sein. Heißt es nicht auch „der Weg ist das Ziel“? Und so kann ich mich freuen immer ein bisschen mehr anzukommen, immer ein bisschen heimischer zu werden, jeden Tag ein bisschen mehr Voerder zu werden aus dieser Ortschaft zwischen Dinslaken und Wesel. Wie wird die noch geschrieben? V-O-Erde! Ach ja, Voerde.

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